Gleich zweimal und zeitgleich kommt dasselbe Klavierkonzert im abgedunkelten Raum zur Aufführung. Überlebensgross gleitet, tanzt oder hämmert die jeweils linke Hand von zwei Konzertpianisten über die Tastatur. Louis Lortie und Jean-Efflam Bavouzet spielen beide Maurice Ravels *Concerto pour la main gauche (1930). Ihre Tempi variieren, wobei die zwei Tonspuren wie in Wellen auseinanderdriften, um sich kurz danach wieder zu treffen.
Jeder Pianist wurde während der gesamten Aufführung von einem Orchester begleitet, in beiden Fällen vom Orchestre National de France. Das bedeutet, dass man die ganze Zeit zwei Pianisten und zwei Orchester hört, also vier Elemente. Auch dieses Zusammenspiel – die Pianostimme und das Orchester – driftet zeitweise durch Tempounterschiede auseinander. Zwischen Einklang und Dissonanz legt die doppelspurige Aufzeichnung verschiedene musikalische Muster frei. In der anhaltenden Virtuosität scheinen Momente von Jazzmusik auf oder ein repetitiver, durch Überlagerung hervorgerufener Klangteppich der Minimal Music, wie Steve Reich oder Philip Glass sie Jahrzehnte nach Ravel komponierten.
Die Qualität von Klang hängt massgeblich von den Eigenschaften des Raumes ab, in dem er gehört wird. So lässt jedes Ambiente Töne mehr oder weniger dumpf oder klar erscheinen. Für Ravel Ravel Interval realisierte Anri Sala einen Raum mit reduzierter Schallreflexion. Dieser ermöglicht es den Besuchenden, sich in der räumlichen Situation zu orientieren und die Intervalle wahrzunehmen. Im fast synchronen Lauf der Pianostimmen, in ihrem Echo und im Hin und Her unserer Aufmerksamkeit gibt uns Anri Sala eine Raumerfahrung wie mit zwei Koordinaten wieder zurück. Der Ton macht hier den Raum.
Dissonanzen prägten bereits die Entstehungs-geschichte von Concerto pour la main gauche. Maurice Ravel komponierte das Stück 1930 im Auftrag des österreichischen Pianisten Paul Wittgenstein. Dieser hatte im Ersten Weltkrieg seinen rechten Arm verloren und war deshalb auf einhändig spielbare Kompositionen angewiesen. Eigene Adaptionen Wittgensteins bei der Darbietung des neuen Stücks und Ravels Beharren auf einer werkgetreuen Interpretation mündeten im Zerwürfnis.
Ravel Ravel wurde vom Künstler 2013 als französischer Beitrag im deutschen Pavillon an der Biennale von Venedig gezeigt und im selben Jahr von der Emanuel Hoffmann-Stiftung erworben. Ravel Ravel Interval ist eine adaptierte Version, die erstmals 2017/18 im Museo Tamayo in Mexico City präsentiert wurde. Hier entschied sich Sala, die zwei Videos nicht übereinander zu projizieren, sondern auf zwei halbtransparente, hintereinander hängende Leinwände. So überlagern sich die zwei Pianostimmen nicht nur hörbar, sondern werden in dieser Installation auch visuell zum Echo- und Paarlauf.
Anri Sala (*1974, Tirana, Albanien) arbeitet mit den Medien Video, Fotografie und Installation. Seine Werke untersuchen Brüche in Sprache, Syntax und Musik, um Geschichten und Kompositionen zu befragen. Zeitbasiert entwickeln sich seine Narrative auf einem dichten Beziehungsnetz zwischen Klang, Bild und Architektur. Sala lebt und arbeitet in Berlin.