Nicht weniger als 128 Monitore füllen drei Regale in Gestellen, die wie überdimensionierte Wohnwände wirken. Die TV-Geräte mit integrierten VHS-Playern zeigen weder die Tagesschau noch Soaps, sondern geben intime Einblicke in Dieter Roths alltägliche Verrichtungen: Man sieht den Künstler beim Lesen und im Schlaf, untätig am Schreibtisch sitzend, schreibend, nackt unter der Dusche, auf der Toilette. Zeitsparend – so Roths pragmatische Argumentation – dokumentiert diese kaleidoskopische Selbstüberwachung das «täglich stattfindende Gelebe» des alternden Künstlers. Solo Szenen sollte Roths Vermächtnis werden; er starb im Juni 1998, noch vor der ersten Präsentation des Werks an der Biennale in Venedig.
Die Auseinandersetzung mit dem Selbst, dem eigenen Ich und seinem Altern begleitete das Schaffen des Universalkünstlers schon früh. P.O.TH.A.A.VFB. (1968) ist nur ein Beleg dafür: Roth war 38, als er sich mit dem Portrait of the Artist as Vogelfutterbüste – einem aus Milchschokolade und Vogelfutter gegossenen Objekt – in 30 Exemplaren als gealterter Mann dem allmählichen Zerfall aussetzte. Der Titel des Werks, das er verschiedentlich variieren sollte, ist eine Anspielung auf James Joyces Roman Portrait of the Artist as a Young Man, den Roth als verkitscht empfand. Auf Künstlichkeit und Theatralik reagierte er geradezu allergisch: So war ein Impuls für Solo Szenen auch Roths Aversion gegen die schauspielerischen Darbietungen im TV-Programm. Dem oft schlaflos im Bett liegenden, rastlos tätigen, häufig fernsehenden Künstler gingen diese so auf die Nerven, dass er mit den ungeschönten Aufzeichnungen seines gewöhnlichen Alltags einen Gegenentwurf startete zur artifiziellen Fernsehwirklichkeit. Die Szenen zeichnen allerdings mehr als Roths eigenen Entzug von Fernsehkonsum auf: Nach einer schweren, von Alkohol und Depressionen geprägten Periode hatte er gerade wieder eine Verfassung gefunden, die ihm erlaubte, sich auf ein Vorhaben zu konzentrieren. Diese fragile Phase musste er allein, «solo», durchleben. Solo Szenen kann als eine Fortsetzung von A Diary (1982) gesehen werden, Roths erstem Beitrag zur Biennale von Venedig: Auch dies eine Aneinanderreihung von Filmen, mit denen er die Erwartungen des Kunstpublikums an den immer schöpferischen Künstler unterwanderte.
Die Solo Szenen sind in Island, in Hamburg und Basel entstanden. Das Land hoch im Norden war Roths ‹Heimathafen› geblieben, nachdem er als junger Mann der Liebe wegen dorthin gezogen und eine Familie gegründet hatte. Seinen Enkeln wollte er ein vitaler und vor allem nüchterner Grossvater sein, in Island fand er Ruhe und Ausgleich. Der 1930 in Hannover geborene Künstler war zeit seines Lebens nomadisch unterwegs; als 14-Jähriger war er während des Zweiten Weltkrieges in die Schweiz zu einer Pflegefamilie gekommen, danach gelangte er über Dänemark nach Island. Nach mehreren Aufenthalten in den USA hatte er sich in verschiedenen Städten – u.a. in Wien, Hamburg, Stuttgart – Arbeitsstätten eingerichtet, in denen er zum Teil auch wohnte.
Allein in Basel hatte er drei Ateliers; in einem vierten Raum, neben dem Kunstmuseum Basel | Gegenwart, ist seit 1990 Selbstturm; Löwenturm eingerichtet: Die monumentale Installation aus zwei hoch aufragenden Türmen aus Schokoladen- und Zuckergussbüsten hat ihren Ursprung in P.O.TH.A.A.VFB.Selbstturm; Löwenturm war als ‹work in progress› in die Sammlung der Emanuel Hoffmann-Stiftung gekommen; genauso wie Solo Szenen kam ihr einst fortlaufendes Werden nach dem Tod des Künstlers zum Stillstand.
Als frühe «zeitbasierte Medienarbeit» gebührt Solo Szenen selbstverständlich ein Platz in Out of the Box. Die Präsentation dieser Installation und weiterer Arbeiten von Dieter Roth ist darüber hinaus aber auch eine Referenz an die Ausstellung «Roth-Zeit. Eine Dieter Roth Retrospektive», mit der das Schaulager vor 20 Jahren eröffnet wurde.
Dieter Roth (b. 1930, Hanover, Germany, d. 1998 Basel, Switzerland) was sent away from Hanover to live with a foster family in Zurich at the height of the Second World War. After an apprenticeship as a graphic artist in Bern (1947–1951), he emigrated to Iceland in 1957, where he got married and established a family. Roth was a restless soul; he not only lived in a variety of countries but also worked in a variety of media – he painted, wrote, pulled prints, took pictures, drew, wrote, made sculptures, produced multiples, designed jewelry, collaborated with other artists, and made music. From 1960 onwards, he worked and exhibited in the USA (e.g., Philadelphia, Providence, and New York) and in Europe (e.g., Stuttgart, Vienna, London, Basel, and Hamburg). In the 1980s, Switzerland became his preferred place of residence, but he always returned periodically to his family and places of work in Iceland.